Sahra Wagenknecht (im folgenden SW) hat ein neues Buch geschrieben.

Einen Bestseller.

Ich hab es gelesen.

Und SW hat (NICHT?!) recht.

Wo fang ich an?

Beim Lesen hab ich mir soviele Anmerkungen gemacht, dass es den Rahmen sprengen würde, detailliert auf alles einzugehen.

Daher werde ich komprimieren und einzelne Beispiele anführen.

Vieles in ihrer Analyse stimmt.

Die Rückschlüsse die sie zieht sind allerdings oft falsch.

Sie bellt den falschen Baum an.

Ihr Lieblingsfeind und Hauptschuldiger an den kritisierbaren Umständen sind die linksliberalen „Lifestyle-Linken“:

„Dominiert wird das öffentliche Bild der gesellschaftlichen Linken heute von einem Typus, den wir im Folgenden den Lifestyle-Linken nennen werden, weil für ihn im Mittelpunkt linker Politik nicht mehr soziale und politökonomische Probleme stehen, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten. Er sorgt sich ums Klima und setzt sich für Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten ein. Zu seinen Überzeugungen gehört, den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für einen Weltbürger zu halten. Generell schätzt der Lifestyle-Linke Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Tradition und Gemeinschaft. Also, man wünscht sich schon eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft, aber der Weg zu ihr führt nicht mehr über die drögen alten Themen aus der Sozialökonomie, also Löhne, Renten, Steuern oder Arbeitslosenversicherung, sondern vor allem über Symbolik und Sprache.

Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögensteuer für die oberen Zehntausend einzuführen ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor, als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten.“

“Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.”

Ludwig Wittgenstein

„Die Frage ist: Nützt es einer Supermarktkassiererin, wenn jetzt überall politsch korrekt gegendert wird? Ich glaube, dass das die Gesellschaft eher spaltet und auch dem eigentlichen Anliegen, sich gegen Rassismus zu wehren, sehr abträglich ist“

SW negiert damit nicht nur, dass die Sprache, unser Wortschatz und deren Verwendung wichtig und bestimmend für unser Denken, für unsere Kultur und unser Zusammenleben sind, sondern auch, dass es sich da um die 2 Seiten einer Medaille handelt – die symbolische und materielle Verknüfung der Emanzipation. Sie spielt das eine gegen das andere aus.

Sie schreibt weiter:

 „Sie (die Lifestyle-Linken) haben den Aufstieg der Rechten ökonomisch vorbereitet, indem sie soziale Absicherungen zerstört, die Märkte entfesselt und so die gesellschaftliche Ungleichheit und die Lebensunsicherheit extrem vergrössert haben“.

Also nicht etwa Thatcher oder Reagan, sondern die BoBo(Bohemian Bourgeois)-Sozis sind schuld.

SW hat damit insoweit recht, als es ein Teil der Wahrheit ist, dass Schröder, Blair & Co Mitschuld tragen und sich nicht standhaft genug gegen die Macht und Gier der Konzerne gewehrt haben. Oder sogar, wie Ex-SPÖ-Bundeskanzler deutlich sagen: Ich bin kein Linker und unter dem Mäntelchen Arbeitszeitflexibilisierung den 12-Stunden-Arbeitstag propagieren. Man könnte sie somit durchaus als Kollaborateure bezeichnen, aber der „Klassenfeind“ sieht anders aus.

Die Dreifaltigkeit des Neoliberalismus – Privatisierung, Steuersenkung, Sozialabbau.

Namentlich etwa die Hayeks, die Friedmanns, die Kochers, die Mahrers, die Zuckerbergs, die Buffets  dieser Welt.

„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“

Warren Buffet

„Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand“

Im zweiten Teil des Buches liefert SW unter dem Titel „Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand“ einen Programmentwurf den man wohlwollend als „links-konservativen“ Gegenentwurf bezeichnen könnte. Ich bin da weniger wohlwollend und sehe da sehr viel von einer (anti)sozialen Heimatpartei. Ein vereinigtes Europa der Vaterländer?

SW vergisst dabei auch, dass „Die EU“ letztlich genau das Ergebnis und die Summe jener nationalen Regierungen sind, die sie wieder als bestimmenden Faktor für die Zukunft als Lösung sieht. Aktuelles Beispiel aus österreichischer Sicht ist die Ablehnung eines EU-weiten Mindestlohnes durch Arbeitsminister Kocher.

Festzuhalten ist also: Es gibt ausreichend Kritikpunkte an der aktuellen Politik der EU. Ausstehende Demokratisierung, fehlende Sozialpolitik, neoliberale Wirtschaftspolitik usw.

Re-Nationalisierung wird diese Probleme aber nicht lösen.

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Sahra Wagenknecht skizziert im Buch eine „Arbeiterklasse“ als erstrebenswert, die es so nicht mehr gibt und auch nicht mehr geben wird. Es wird die Sehnsucht nach einer „Leistungsgesellschaft“ artikuliert in der sich „Leistung“ wieder lohnen muss. Ein Arbeitsbegriff, den Herr Kurt Ostbahn treffend so beschreibt:

A Liad üba mein Vodan.

Der hot sei lebtag goabeit

Daun is a gstuabn

SW schreibt auch: „Kritik am Leistungsgedanken geht auf die 68er-Bewegung zurück“. Herbert Kickl kann dem sicher zustimmen.

Wollen wir wirklich an einem derartigen Arbeitsbild für alle Zukunft festhalten?

Postwachstum und bedingungsloses Grundeinkommen finden sich im Buch unter Ideen die keiner braucht. Transparenz kommt nicht einmal in diesem Zusammenhang vor.

Das alles, angesichts der Veränderungen bei Klima oder Digitalisierung?

SW übersieht, dass Klimafragen nicht national lösbar sind und Klimapolitik nicht an nationalen Grenzen enden kann und darf. Friday for Future zitiert SW im Zusammenhang als „hochtrabende Welterrettungsrethorik“.

SW vermischt Fluchtbewegungen mit Migrationspolitik. Und sie desavouiert immer wieder ihre eigentlich berechtigte und richtige Kritik am System mit rückwärtsgewandten Vorschlägen. Sie redet einer Re-Globalisierung das Wort, kritisiert dabei die EU und widerspricht sich dabei selbst, indem sie (richtigerweise) europäische Lösungen verlangt.

Interessant auch ihr Ansatz „gerechte Zinsen“ zu fordern. Es irritiert, wenn Linke für höhere Zinsen eintreten und die Mär von der dadurch entstehenden Enteignung der Mittelschicht erzählen. Hohe Zinsen dienen immer und ausschliesslich den Besitzenden.

Die derzeitige Situation von niedrigen Zinsen bis zum Negativzins für die Staatsverschuldung dagegen hilft gerade jenen um die sich Wagenknecht vorgeblich sorgt – den Besitzlosen. D.h. die grosse Mehrheit profitiert von diesen niedrigen Zinsen, weil kaum bis keine Zinslast für den Staat entsteht, die anderenfalls ja über höhere Steuern oder Einsparungen beim Staat (Sozialausgaben) auszugleichen wären.

Epilog

„Die wichtigste Ursache der politischen Rechtsentwicklung ist das Versagen der linksliberalen Linken“

Dieses Zitat aus dem Buch erinnert sehr stark an die Kritik Doszkozils als er meinte:

„Wir dürfen keine grün-linke Fundi-Politik betreiben. Da schaffen wir uns selbst ab.“

Vermarkten kann sie, die Frau Wagenknecht. Immerhin ist dieses Buch ein Bestseller mit dementsprechenden Tantiemen. Keine „linksliberale Zeitung“ ohne Interview. Vom Standard über die NZZ oder die Süddeutsche.

Das könnte man dann schon fast als Publikumsbeschimpfung verstehen.

Die Frage ist: Hilft das der oben zitierten Supermarktkassierien?

Auch hab ich beim Lesen immer so ein klein wenig den subjektiven Eindruck gewonnen, dass SW beleidigt ist ob der fehlenden Anerkennung durch die von ihr geschmähten Life-Style-Linken. Drum holt sie sich diese Anerkennung von der anderen Seite.

P.S.:

Ihr unreflektierter Standpunkt zu #allesdichtmachen erscheint mir auch sehr aufschlussreich.

„eine klasse Playlist, in der bekannte Schauspieler/innen ihre Empörung über die aktuelle #Corona-Politik wunderbar ironisch zum Ausdruck bringen.“

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2 thoughts on “Die Selbstgerechte

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