Jetzt! Genau jetzt!

Der Wecker!

Es war einer von diesen modernen, batteriebetriebenen Weckern, die langsam und beinahe lautlos zu piepsen begannen und mit Fortdauer immer unerträglicher wurden.

Anders als diese altertümlichen handaufgezogenen Ungetüme der Großmütter, die mit einem Schlag die Realität der Erwachens einforderten, quälten diese Folterinstrumente der Zeitmessung das Unterbewußtsein ihrer Opfer bereits im noch seligen Zustandes des Tiefschlafes.

Sanftes Wecken?!

Scheiße!

Hinterfotzige Marterei mit den unterschiedlichen Bewußtseinszuständen der Großhirnrinde!

 

Er sah auf die Uhr. Eigentlich konnte es für ihn ja nicht wirklich eine Überraschung sein, dass dieses Geräusch um genau diese Zeit ertönen würde. Schließlich hatte er ja den  Wecker selbst am Vorabend eingestellt und vor dem zu Bett gehen nochmals kontrolliert.

Fünf Uhr früh.

Vor dem Fenster bahnte sich ein erster Hauch von Dämmerung seinen Weg durch das Dunkel des Vorstadtdschungels. Nur noch einige Tage bis zum längsten Tag des Jahres. Dunkelgrau, wie ein Morgen nur sein kam, kroch der anbrechende Tag durch die undichten Ritzen des Fensterstockes. Und so wie er irgendwie nicht überrascht war, erzeugte doch der Gedanke an das Verlassen seines Schlafplatzes nahezu körperliches Unwohlsein. Sämtliche, seine in der viel zu kurzen Zeit des Ruhens angesammelten, Energien verbrauchend, mühte er widerwillig seinen Körper aus dem Bett.

In weiser Voraussicht des nun Kommenden, hatte er bereits am Vorabend sämtliche Vorbereitungen für einen raschen Aufbruch getroffen. Eine riesige Tasche stand gepackt neben der Tür. Sämtliche Notwendigkeiten für einen längern Aufenthalt ausserhalb seiner eigenen vier Wände waren darin verstaut. Es galt den ersten Zug des Tages nach München zu erreichen. Um genau zu sein: Flughafen München.

Vor knapp mehr als zwölf Stunden kam der Anruf, in dem ihm lapidar mitgeteilt wurde: „Ihr Flug geht morgen um 13 Uhr 20 von München.“

Die Entscheidung war gefallen. Jetzt hatte er keine andere Wahl mehr.

Ein letzter Blick auf seine Behausung – Sicherungen heraussen, Gas und Wasser abgedreht – und dann der Griff zu seiner Kopfbedeckung.

Er hatte eine sonderbare Vorliebe für sonderbare Kopfbedeckungen entwickelt. Jetzt drückte er sich seinen Lieblingshut auf den Kopf. Ein viel zu grosser Schlapphut, mit einer viel zu breiten Krempe, der ehedem leuchtend Orange gewesen war. Jetzt leuchtete nicht mehr sehr viel. Ausgebleicht von Sonne und Wind war der Hut zwar immer noch Orange, aber nur noch, wenn der Betrachter auch dementsprechend Willen zeigte. Und vorne war auch noch der Schriftzug „Dude“ erkennbar.

Dude, sein Spitz- und einzig verbliebener Rufname.

Die ganze Welt nannte ihn „Dude“.

Nicht nach „Big Lebowski“, sondern nach seinem vormals orangenem, viel zu grossem, viel zu breitkrempigem Schlapphut. Er hätte aber auch durchaus eine Figur, einem Coen-Film entsprungen, sein können.

 

Die viel zu schwere Tasche geschultert stapfte er in das Grauen des Morgens vor dem Miethaus in dem er seinen ständigen Wohnsitz hatte.

Und jedesmal, wenn er das Haus verließ, stolperte er über diese Stange mit der Tafel daran. Gleich links neben dem Tor stand sie. Und 20 Meter weiter rechts stand das passende Gegenstück. Halten verboten. Über die gesamte Länge des Hauses. Ausgenommen Liefertätigkeit stand auf einer Zusatztafel.

Und dann war da noch ein Zusatz auf einem weiteren Schild.

Die Stange war so lang, da wäre noch Platz für einige Zusätze gewesen. Jedenfalls mehr Platz für Zusatztafeln als für abzustellende Fahrzeuge. Parkplätze waren rar in dieser Gegend und dann eine Zone, die die meiste Zeit über sinnlos brachlag. Und wenn sie denn doch, sozusagen entgegen der geltenden StVO, nicht für Liefertätigkeit genutzt wurde, kam auch schon eines diesen netten Wesen in blauer Uniform mit dem Schreibblock in der Hand und sorgte dafür, dass der Verkehrssünder auch dem Gesetz entsprechend behandelt wurde.

Doch mit diesem Kapitel hatte Dude schon lange abgeschlossen. Er hatte gelernt, die fallweise Sinnlosigkeit der Gesetzgebung als gottgegeben hinzunehmen. Was ihn jedoch jedesmal wieder, wenn er an einer dieser beiden Stangen vorbeikam – und er kam oft an einer vorbei – beschäftigte, war die Aufschrift auf dieser zweiten Zusatztafel.

Da stand auf einer kleinen weissen Emailtafel in einfacher schwarzer Schrift:

Mo – Fr (werktags) 6.00 bis 20.00 Uhr.

Und darunter:

Sa (werktags) 6.00 bis 14.00 Uhr.

 

Werktags!

Ein anachronistischer Begriff aus den Urzeiten der zur Lebensaufrechterhaltung notwendigen Lohnarbeit.

Werken: lt. Duden:

Wer ging den heutzutage noch zu Werke? Heute hat man Jobs! Und in Gegenden wie dieser ging man grad noch in die „Hockn“! Aber ins „Werk“ ging da keiner mehr. Selbst E-Werk und Gas-Werk hiessen heut Wien Energie.

Eine Stange hinter sich lassend strebte Dude auf seinem Weg zum Westbahnhof auf die Zweite zu.

Gehörte es zu seinem Werk rechtzeitig den Flieger in München zu erwischen? Auch wenn vom Tag erst ein erstes Anzeichen gegeben war?

Werkte er?

Werkte er unter Tags?

Hatte er einen Werktag?

Hatte überhaupt noch jemand einen Werktag?

Konnte man einen Werktag haben ohne zu werken?

Und konnte es eigentlich einen Werktag geben, wenn niemand mehr werkte?

Werktagsgedanken habend erreichte Dude die U-Bahn.

Zig-male hatte er bereits versucht für diese Fragen eine endgültige Antwort zu finden. Er sah sich um und versuchte in den Gesichtern der wenigen Menschen, die wie er auf die nächste U-Bahn warteten, zu ergründen, ob hier jemand zu Werke fuhr.

 

Er beobachtete, die etwa vierzigjährige, abgearbeitete Frau mit dem grauen Gesicht, die aussah wie fünfzig und vielleicht Svetlana hieß. Oder Jolanta. Aber vielleicht auch Hedwig. Dumpf starrte sie auf die Schienen. Die Zeit schien an ihr jedes Interesse verloren zu haben.

Sie fuhr vielleicht in eines dieser modernen Großraumbüros um Tische und Böden zu säubern. War die vorübergehende, vergängliche Sauberkeit ihr Werk?

Vielleicht fuhr sie aber auch in ein Pflegeheim um alten, vergessenen Menschen das Frühstück zu bereiten, die Betten zu machen und das Nachthemd zu wechseln.

Der routinierte, lieblose, von der Allgemeinheit an den Staat abgeschobene und schlechtbezahlte Rest von Menschlichkeit als Werk?

Montags bis Freitags von sechs bis zwanzig Uhr?

 

Die in die Station einfahrende U-Bahn-Garnitur verdrängte das Opfer seiner wüsten Phantasie aus seiner Aufmerksamkeit, die jetzt davon in Anspruch genommen wurde, seine immer schwerer werdende Tasche auf einen freien Sitz zu stemmen. Offensichtlich gehörte es zu seinem Werktag der Schwerkraft Augenblicke der Entlastung abzuringen.

Dude ließ sich auf den leeren Sitz gegenüber seiner Tasche fallen.

Gilt die Anreise zum Arbeitsplatz bereits als Arbeitszeit? Konnte er für die schwere Tasche Erschwerniszuschlang verlangen?

Wieder blieben seine Gedanken an der Zusatztafel hängen.

Wieso gab es die Beifügung „werk“ nur zu tags? Zählte ein geschaffenes Werk unter Nachts weniger? Weil wenn es noch Betriebe gibt in denen gewerkt wird, also z.b. einem Autowerk, wird doch während des nächtens ebensoviel produziert –gewerkt- wie unter tags. Die Nacht obliegt somit einer weiteren Diskriminierung gegenüber dem Tag.

Sein umherschweifender Blick blieb auf einem in Uniform deutlich erkennbaren Organ eines privaten Wachdienstes, vulgo einem Nachtwächter, im hinteren Teil des Waggons hängen. Hier, fiel ihm jetzt auf, galt der Umkehrschluß. Weil obwohl natürlich auch unter Tags verschiedene Schutzdienste verrichtet wurden, gab es keine Tagwächter. Lange hatte er allerdings nicht Zeit dieser plötzlich Erkenntnis zu folgen, da das Ziel seiner Fahrt unmittelbar bevorstand.

„Nächste Station Westbahnhof! Umsteigen zur Linie 5, zur Linie ……“

Seine ganze Konzentration wurde wieder von seiner zu schleppenden Last in Anspruch genommen. Er lag gut in der Zeit. Noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges. So konnte er das Tempo seiner Schritte seinem inneren Gemütszustand anpassen ohne in eine, ihm widerwärtige, Hektik zu verfallen. Bahnkarte kaufen und einen Sitzplatz beim Fenster sichern, verliefen ohne weiter Vorkommnisse.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

Das dunkle Grau der vor sich hin dämmernden Vorstadt wich langsam dem Licht des

hereinbrechenden Tages und den Farben der ländlicher werdenden Umgebung. Dude kehrte mit seiner Gehirntätigkeit wieder zu der ominösen Zusatztafel zurück. Es mußte doch eine end- und allgemeingültige Erklärung für den Begriff werktags und den damit zusammehängenden, kundgetanen Zeiten geben.

Ob es an der schier unlösbaren Problematik der Thematik lag, am monotonen ratata ratata des in der Werbung der ÖBB publizierten Einschlafgeräusches beim Abrollen von Metall an Metall, oder schlicht und einfach am, in der letzten Nacht entstandenen, übergrossen Schlafdefizit war letztendlich bedeutungslos. Dude schlief den Schlaf des Gerechten ohne weiter in geistiger Geiselhaft der Zusatztafel zu sein.

Frisch und erholt erreichte Dude das nächste Etappenziel. Flughafen München. Nach dem Einchecken von seiner schweren Tasche befreit, fühlte er sich erlöst und frei für die nun kommenden Aufgaben.

 

Zwei Tage später.

Nach Sonnenuntergang.

Irgendwo an einer Strandbar unter Palmen.

In einem Ferienclub.

 

An der Bar lehnt der Wiener Philosophiestudent im siebzehnten Semester, Robert Nemecek, mit einem Glas Capiriniah in der Hand und unterhält sich mit einer viel zu blonden, viel zu braungebrannten deutschen Touristin namens Ute.

Den ehedem orangen Schlapphut mit der viel zu breiten Krempe, hat er lässig in den Nacken geschoben und seine strahlend blauen Augen können es am Kitschbarometer locker mit dem Sternenhimmel aufnehmen.

Sein wienerisches Idiom reicht völlig, um, ungeachtet des Gesagten, als charmant durchzugehen. Ute ist es auch völlig egal, was der vor ihr stehende Tennistrainer an Weisheiten von sich gibt. Sie versteht ohnehin kaum, worum es in dem Gespräch eigentlich geht. Ob das jetzt an der, die beiden trennenden Sprache, oder am etwas verworrenen Inhalt des Gesagten liegt, spielt ihr auch keine Rolle. Ihr reicht die Melodie der Stimme, der strahlende Blick und das offensichtliche Interesse an ihr, um

ihm hingebungsvoll ihr Ohr zu leihen, bereit, es nicht nur bei dieser Einschränkung auf diesen begrenzten Teil ihres Körpers zu belassen.

Dude erliegt gerade wieder einmal seiner Obsession und schwadronierte ausführlich über die Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Werken, Arbeiten, Jobben, Zeit und Raum. Allerdings geraten seine Gedanken und Ausführungen immer mehr unter den Einfluss des genossenen Alkohols. Die Tätigkeit der Grosshirnrinde wird immer mehr und mehr vom Einfluss des Kleinhirns überlagert.

 

Und so kommt Dude zu der für ihn zwischenzeitlich befriedigenden Lösung, dass es letztendlich völlig egal ist, ob er hier nun werkt, arbeitet oder bloß einen Job erledigt. Er wird diesen Werktag nun in den Armen von Ute beschliessen und zumindest vorübergehend einer anderen Obsession erliegen, ohne an die Stange mit der Zusatztafel mit der Aufschrift „werktags“ auch nur zu denken.

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