„Die Schweiz ist unter den Top-Staaten – auch weil sie nicht an EU-Regeln gebunden ist.“

Das hat der nunmehrige Bundeskanzler und vormalige Aussenminister Sebastian Kurz am vergangenen Sonntag im Kurier Sonntagsinterview gesagt.

Eine Aussage, die im aktuellen politischen Umfeld – Steuergeschenke an die AUA, Ibiza-Untersuchungsausschuss, Fehler in den Auszahlungen bei den Coronahilfen, Budgetdesaster usw. – nicht einmal als Fussnote in der öffentlichen Wahrnehmung aufscheint.

Dieser Satz zeigt aber sehr deutlich und exemplarisch, wie Kurz argumentiert und wie genau er es mit Fakten nimmt.

Denn die Schweiz ist durch einen Rahmenvertrag und ein ganzes Bündel von bilateralen Abkommen faktisch Teil des Binnenmarktes EU.

Der  Rahmenvertrag regelt fünf Marktzugangsabkommen zwischen der EU und der Schweiz.

Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, landwirtschaftliche Erzeugnisse, Luftverkehr, Landverkehr

Mit einem Unterschied zu einer Vollmitgliedschaft.

Die EU gewährt der Schweiz gewisse Mitwirkungs- aber keine Mitsprache bei der Erarbeitung von einschlägigem neuem Recht. Die Schweiz hat dann 2 Jahre Zeit dieses Recht zu übernehmen.

Darüber hinaus nimmt die Schweiz durch eigene Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen auch voll am EU-Grenzregime und Asylwesen teil.

Z.B. verlangte die Volksabstimmung 2014, dass die Schweiz eine Obergrenze bei Einwanderungen aus dem EU Raum einführt. Nach langen Verhandlungen mit der EU verzichtete die Schweiz auf dieses Gesetz weil es die EU Richtlinien verletze.

Und die Schweiz ist verpflichtet, regelmäßigen Zahlungen an den EU-Haushalt zu leisten. Aktuell sind das rund zwei Milliarden Euro, die jährlich überwiesen werden.

Wird das Rahmenabkommen gekündigt, werden laut einer Kündigungsklausel auch alle anderen neuen Marktzugangsabkommen, welche auf seiner Basis abgeschlossen worden sind, ausser Kraft gesetzt.

Konkret und deutlich und völlig entgegen der Aussage des Kanzlers:

Die Schweiz hat sich also nicht nur an EU-Regeln – wie ein EU-Mitglied –  zu halten, sondern die EU beschliesst und die Schweiz hat ohne Mitbestimmungsrecht diese Regeln umzusetzen.

Und zu zahlen.

Ähnliches gilt übrigens für Norwegen.

In diesem Zusammenhang sind 2 Fragen zu stellen.

1. Warum überhaupt sagt der österreichische Bundeskanzler so etwas, obwohl er eigentlich ganz genau wissen müsste, dass das faktisch falsch ist

und

2. Warum widerspricht die Interviewerin nicht, bzw. fragt nicht nach um eine detaillierte Anwort zu erhalten. Interviewerin war in diesem Fall die Chefredakteurin des Kurier, Frau Martina Salomon.

Bleiben wir vorerst bei Frage 2.

Seit der Übernahme durch Frau Salomon ist der Kurier von einer anständigen Zeitung zu einer Parteizeitung der türkisen ÖVP geworden mit einem Niveau, das teilweise sogar noch unter jenem von Krone & Co angesiedelt ist.

Und die Chefredakteurin gibt Niveau und Ton vor.

So sagt sie z.B. in einer „politischen“ Analyse nach dem Sommergespräch von Pamela Rendi-Wagner:

„Jetzt hat sie sogar gesagt, sie hat ein Cordon Bleu gegessen letzten Freitag. Ich glaube ihr kein Wort. So, wie sie ausschaut, wird sie sich eher nur von ein paar Salatblättchen ernähren.“

Sie weiss also besser was PRW isst und bezichtigt sie gleichzeitig der Lüge – inkl. Bodyshaming.

Ibiza-Ankündiger und Ziegenficker-Satiriker Jan Böhmermann nennt sie dafür schon einmall „Dumm und primitiv“.

Aktuell behauptet(e) der Kurier, die WKStA würde die Soko Tape im Zuge der Ibiza-Recherchen beschatten lassen. Ohne Quellenangabe.

Dies veranlasst die WKStA noch zu nachtschlafener Zeit zu einer entschiedenen Stellungnahme.

Der Artkel bleibt unverändert, mit dem Zusatz: In einer Stellungnahme behauptet die WKStA, korrekt gehandelt zu haben.

Nach dem gleichen Schema agierte die ÖVP übrigens im Zuge der für Blümel „unglücklich“ verlaufenen Budgetdebatte.

Es wurden versucht mit Falschinformationen einen Abgeordneten (Jan Krainer) zu diffamieren, der ganz sachlich auf einen unbestreitbaren Fehler Blümels hingewiesen hat? Informationen die ganz eindeutig aus dem Finanzministerium gekommen sind und nachweislich nicht den Tatsachen entsprechen.

Michael Jungwirth, Leiter der Innenpolitik bei der Kleinen Zeitung, veröffentlichte ohne weitere Recherche, diese Falschmeldung. Auch die „Krone“, die sogar zugab, dass diese Information aus der ÖVP kam.

Auch Thomas Mayer stimmte auf Twitter in den Chor der ÖVP-Verteidiger ein.

Eines der Probleme bei solchen Falschmeldungen ist, dass sich Kurz & Co bei Interviews auf solche „Medienberichte“ berufen. Sie können dann (ohne direkt die Unwahrheit zu sagen) erklären, dass es keine peinlichen Fehler gab und die Opposition alle nur „anpatzen“ will.

Und die Medien machen bei diesen Spielchen nur zu gerne mit. Werden sie doch, sofern die Eigentümer nicht ohnehin im Dunstkreis der ÖVP zu finden sind (z.B. Raiffeisen) auch mit „Sonderpresseförderung“ und Regierungsinseraten in Millionenhöhe dafür belohnt. Man könnte auch gekauft sagen.

Kommen wir jetzt zur Frage Nummer Eins:

Warum überhaupt sagt der österreichische Bundeskanzler so etwas, obwohl er eigentlich ganz genau wissen müsste, dass das faktisch falsch ist.

Muss er wissen, dass seine Aussage falsch ist?

Natürlich muss er das wissen.

Und er weiss das auch.

Immerhin war er von 2013 bis 2017 Aussenminister und in allen Verhandlungen auch mit der Schweiz eingebunden.

Warum also sagt er es dann?

Er meint ganz offensichtlich, und das ist die Kernaussage dieses Statments, dass man in Europa besser da steht, wenn man nicht Teil der EU ist.

Deutlicher kann man nicht sagen, was man von einem gemeinsamen Europa hält.

Diese antisolidarische Haltung gegenüber anderen EU-Mitgliedern zeigte sich auch beim notwendigen EU-Wiederaufbaufonds im Zuge der Coronakrise.

Der Kanzler profiliert sich hier wieder einmal als EU-Kritiker.

Er tut das wider besseren Wissens.

Er muss seine von der FPÖ gewonnen Wähler*innen bei der Stange halten. Dafür würde er auch die EU platzen lassen.

Ihm ist alles recht, was ihm wieder ein Prozent in der Wählergunst bringt.

Sein Horizont reicht nur bis zur nächsten Wahl. Und die könnte uns angesichts der Meldungen aus dem Ibiza-Untersuchungsausschuss sehr bald ins Haus stehen.

Dem Rechtspopulisten Kurz sind Fakten in der Zwischenzeit maximal lästige Behinderungen. Worum es geht ist einzig und allein seine Inszenierung.

Selbst im Wirtschatsmagazin Trend ist nur mehr wenig Freundliches zur EU-Politik von Kurz zu lesen. Aussagen wie „Heuchelei“ und „einstige Europapartei ÖVP“ …

Wie lange werden sich seine Sponsoren in der IV das noch anschauen?

Dieser Kanzler ist gegenüber den Realitäten völlig Ignorant.

Eine Eigenschaft, die er mit vielen seiner Wähler*innen teilt.

Und weil das so ist, ist er auch erfolgreich.

Dass die Schweiz den österreichischen Bundeskanzler völlig anders sieht, als der sich in seinem Selbtbildnis, steht auf einem anderen Blatt und entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Foto: Schweiz Tourismus 

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